Instabilität, schmelzender Permafrost ... Wie kam es zum Zusammenbruch des Birkengletschers in der Schweiz?

Obwohl Experten bereits einige Tage vorher wussten, dass der katastrophale Gletscherbruch unvermeidlich war, reichen die Ursachen des Erdrutsches viel weiter zurück. „Wir können von einem Kaskadenereignis sprechen, da verschiedene Prozesse im Spiel sind“, erklärt Christophe Lambiel, Dozent und Forscher am Institut für Erdoberflächendynamik der Universität Lausanne.
Das Kleine Nesthorn, das mit 3.342 Metern den Gletscher überragt, war bereits etwas instabil und der Felssturz beschleunigte sich etwa zehn Tage vor der Katastrophe dramatisch.
Drei Millionen Kubikmeter Gestein stürzten auf einmal auf den Gletscher. „Wenn man auf ein instabiles Fundament großen Druck ausübt, kann es einfach abrutschen. Und genau das ist passiert“, erklärt Matthias Huss, Direktor der Schweizerischen Gletscherbeobachtungsagentur (GLAMOS).
„Der Gletscher beschleunigte unter dieser zusätzlichen Last stark, und dann geschah die Katastrophe.“
Ein Sonderfall war der Birkengletscher: Er war der einzige Schweizer Gletscher, der vorrückte, während alle anderen sich zurückzogen, allerdings nicht dank einer besseren Schneedecke.
Dies sei höchstwahrscheinlich auf die Wucht des Felssturzes vom Berg zurückzuführen und „der Erdrutsch kam also nicht aus dem Nichts“, betont Huss. Der Gletscher hatte einen steilen Hang, vorne war er sogar noch steiler, was den Prozess noch weiter beschleunigte.
Die Steinschläge hätten die Spannungsgleichung zwischen dem Gewicht des Gletschers und der Neigung verändert, die die Bewegungsgeschwindigkeit des Gletschers bestimmt, sagt Lambiel. Es ist wie beim Anschieben eines Autos: Um die Bewegung einzuleiten, ist viel Kraft erforderlich, aber viel weniger, sobald das Fahrzeug in Bewegung ist.
Die 1.000 Höhenmeter über dem Lötschentaler Talboden brächten laut Matthias Huss „enorm viel potentielle Energie“ mit sich. Durch die Reibung schmilzt ein Teil des Eises und es entsteht ein Wasserpolster, das dem Gletscher ein schnelleres Gleiten ermöglicht.
Schmelzender PermafrostIn den Alpen schmilzt der Permafrost in immer größeren Tiefen. „Eis gilt als der Zement der Berge. Die Verschlechterung der Qualität dieses Zements verringert die Stabilität des Berges“, so Christophe Lambiel.
Matthias Huss ergänzte: „Wir können derzeit nicht mit Sicherheit sagen, ob auftauender Permafrost die Ursache für den Einsturz dieses Berges war, aber es ist zumindest eine sehr wahrscheinliche Erklärung bzw. ein Faktor, der diesen Einsturzprozess ausgelöst oder beschleunigt hat.“
Jakob Steiner, Geowissenschaftler an der Universität Graz in Österreich, sagte: „In diesem speziellen Fall gibt es noch immer keine klaren Beweise dafür, dass der Klimawandel die Ursache dieses Phänomens ist.“ Und die Herstellung einer solchen direkten Verbindung sei „kompliziert“, so Matthias Huss. „Wäre der Einsturz dieses Berges allein auf den Klimawandel zurückzuführen, könnten alle Berge der Alpen einstürzen – und das ist nicht der Fall“, sagt der Wissenschaftler.
Für ihn handelt es sich „um eine Kombination langfristiger geologischer Veränderungen. Der Gletscherbruch als solcher hat nichts mit dem Klimawandel zu tun. Vielmehr handelt es sich um Permafrostprozesse, die sehr komplex sind und langfristige Veränderungen mit sich bringen.“
Auch Christophe Lambiel ist vorsichtig, doch „die Zunahme der Felsstürze auf dem Gletscher in den letzten zehn Jahren könnte mit dem Klimawandel zusammenhängen.“
Moderne Überwachungstechniken erkennen die Eisbeschleunigung mit hoher Genauigkeit und ermöglichen so eine frühzeitige Warnung. Christophe Lambiel sagte, dass rund 80 Gletscher in derselben Region des schweizerischen Wallis als gefährlich eingestuft und überwacht würden.
„Die größte Herausforderung besteht darin, zu bestimmen, wo eine detaillierte Überwachung erfolgen soll“, räumt Matthias Huss ein.
SudOuest