Sprache auswählen

German

Down Icon

Land auswählen

America

Down Icon

Kohlenstoffmärkte ohne Kernenergie unvollständig

Kohlenstoffmärkte ohne Kernenergie unvollständig

Guido Núñez-Mujica ist Direktor für Datenwissenschaft am Anthropocene Institute.

Während die Welt ihre Netto-Null-Ziele immer weiter vorantreibt, sind Kohlenstoffmärkte zu einem Eckpfeiler unserer globalen Klimareaktion geworden. Ihre Glaubwürdigkeit hängt jedoch von einer entscheidenden Frage ab: Wertschätzen wir wirklich alle Formen kohlenstoffarmer Energie? Derzeit lautet die Antwort ein klares Nein. Und ein eklatantes Versäumnis beweist dies: die Kernenergie.

Obwohl die Kernenergie die zweitgrößte Quelle für kohlenstoffarmen Strom weltweit ist, ist sie von freiwilligen Emissionshandelsmärkten noch immer weitgehend ausgeschlossen. Wichtige Standards wie Verra und Gold Standard erlauben es Kernenergieprojekten derzeit nicht, Emissionszertifikate zu generieren. Dieses Versäumnis schwächt nicht nur die Integrität des Systems, sondern verzerrt den gesamten Markt.

Durch Kernenergie werden jährlich 430 Millionen Tonnen CO2-Emissionen vermieden . Das sind mehr als die jährlichen Emissionen Japans . Finnland konnte seinen Kohleverbrauch nach der Inbetriebnahme seines neuesten Atomreaktors um 70 % senken. Kernkraftwerke arbeiten mit hoher Kapazität und liefern zuverlässige Grundlast, die variable erneuerbare Energien wie Wind und Sonne ergänzt. Dennoch bleibt der enorme Klimawert dieses Beitrags unbelohnt – weder finanziell noch symbolisch.

Zur Veranschaulichung: Während die Stromerzeugung aus Wind- und Solarenergie oft wetter- und tageszeitabhängig schwankt, sind Kernkraftwerke über 90 % der Zeit in Betrieb. Das macht sie zu einem wichtigen Ankerpunkt in einem sauberen Energienetz – einem Netz, das den Ausbau fluktuierender erneuerbarer Energien ohne Einbußen bei Zuverlässigkeit und Stabilität ermöglicht und fossile Brennstoffe rund um die Uhr ersetzen kann.

Dies hat schwerwiegende Folgen. Weltweit werden veraltete Atomreaktoren stillgelegt, ohne dass ausreichend Ersatz geschaffen wird. In vielen Fällen werden sie durch fossile Brennstoffe ersetzt. Als Deutschland seine Atomkraftwerke abschaltete, stieg der Kohleverbrauch sprunghaft an . In Kalifornien stiegen die Emissionen nach der Schließung von San Onofre . In New York City führte die Schließung von Indian Point zu einem derartigen Anstieg der Emissionen, dass das texanische Stromnetz heute sauberer ist als das von New York City . Dies sind keine Einzelfälle: Sie sind Symptome eines globalen Finanzierungsproblems.

Warum ist das so? Weil die Kohlenstoffmärkte starke wirtschaftliche Signale aussenden. Kann die Kernenergie nicht daran teilnehmen, hat sie keine Möglichkeit, die vermiedenen Emissionen zu monetarisieren. Das erschwert den Betrieb bestehender Anlagen und den Bau neuer Anlagen. Saubere Energietechnologien wie Solar- und Windenergie profitieren sowohl von politischer Unterstützung als auch vom Zugang zu Kohlenstofffinanzierungen. Die Kernenergie bleibt trotz ihrer nachgewiesenen Leistungsfähigkeit weiterhin ausgeschlossen.

Und dabei geht es nicht nur um die Technologie von heute. Die Kernenergie von morgen – kleine modulare Reaktoren, fortschrittliche Flüssigsalzsysteme und sogar Prototypen der Festkörperfusion – steht kurz vor der Marktreife. Diese Systeme versprechen sauberere, sicherere und flexiblere Anwendungen der Kernenergie. Doch um sie skalieren zu können, benötigen sie Kapital. Investoren unterstützen eher Projekte im Frühstadium, die den Kohlenstoffmarkt erschließen können – insbesondere, wenn konkurrierende Technologien dies bereits tun.

Dies sendet genau zum falschen Zeitpunkt die falsche Botschaft.

Der Weltklimarat (IPCC) hat wiederholt erklärt , dass wir die 1,5-Grad-Ziele ohne Kernenergie nicht erreichen können. Die Internationale Energieagentur (IEA) stimmt dem zu und fordert eine Verdoppelung der Kernenergiekapazität bis 2050. Der Ausschluss der Kernenergie vom Kohlenstoffmarkt untergräbt diese Ziele, indem er die Wirtschaftlichkeit von Investitionen in eines unserer wirksamsten Instrumente zur Dekarbonisierung schwächt.

Es besteht auch die Gefahr, die Energiesouveränität von Ländern zu untergraben, die zwar bereit für eine Dekarbonisierung wären, sich aber nicht allein auf wetterabhängige erneuerbare Energien verlassen können. Insbesondere Länder des globalen Südens könnten von neuen, robusten, bedarfsgerechten und platzsparenden Kerntechnologien profitieren. Indem wir die Atomenergie von der Kohlenstofffinanzierung ausschließen, schränken wir den Zugang zu einem der skalierbarsten Dekarbonisierungsinstrumente für Schwellenländer ein und drängen sie zu billigeren und zuverlässigeren fossilen Brennstoffen. Es gibt einen Grund, warum der Kohleverbrauch im letzten Jahrzehnt trotz des offensichtlichen Erfolgs von Solar- und Windenergie sprunghaft angestiegen ist.

Dieses Problem ist für aufstrebende Reaktorentwickler besonders dringlich. Neue Designs – viele davon kleiner, sicherer und flexibler – stehen bereit, um schwer dekarbonisierbare Sektoren wie die industrielle Wärme-, Wasserstoff- und Entsalzungstechnik zu unterstützen. Doch ohne Zugang zu Emissionszertifikaten sind ihre Finanzierungsmodelle unvollständig. Das ist nicht nur eine verpasste Chance. Es ist ein strukturelles Innovationshindernis, das das Erreichen unserer Klimaziele deutlich erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht.

Allein die Industrieemissionen verursachen rund ein Viertel der globalen Treibhausgase. In Branchen wie Stahl, Zement, Chemie und Schwertransport reichen erneuerbare Energien oft nicht aus. Hochtemperatur-Kernreaktoren könnten die benötigte Wärme, den Wasserstoff und den Strom für diese Industrien emissionsfrei liefern. Doch zunächst müssen wir gleiche Wettbewerbsbedingungen schaffen.

Natürlich sollte die Einbeziehung der Kernenergie in den Kohlenstoffmarkt mit Sicherheitsvorkehrungen einhergehen. Wir brauchen Transparenz, eine strenge Lebenszyklusanalyse und die Einhaltung internationaler Sicherheitsstandards. Ein standardmäßiger Ausschluss ist jedoch keine Sicherheitsmaßnahme – er entspricht nicht dem wissenschaftlichen Konsens.

Es geht auch um Fairness. Emissionsgutschriften sollen vermiedene Emissionen belohnen. Wenn ein neues Solarprojekt Gutschriften erhält, warum nicht auch ein Atomprojekt, das die gleiche – oder sogar mehr – CO₂-Menge vermeidet? Wenn wir es mit dem Klima ernst meinen und wirklich glauben, dass wir uns in einem Klimanotstand befinden, dann müssen die Regeln die Physik des Kohlenstoffs widerspiegeln, nicht politische oder historische Vorurteile.

Wir haben keine Zeit, an überholten Vorstellungen festzuhalten. Ursprüngliche Gründe für den Ausschluss der Atomkraft von freiwilligen Märkten waren Sicherheitsbedenken, die Verbreitung von Waffen und die öffentliche Wahrnehmung. Doch jahrzehntelange Erkenntnisse – und eine neue Generation sicherer Technologien – haben die Debatte verändert. Sogar die Europäische Union erkennt Atomkraft in ihrer Energietaxonomie als umweltfreundlich an. Die Klimawissenschaft unterstützt die Atomkraft mittlerweile mit überwältigender Mehrheit als Teil der Lösung. Die Klimapolitik muss aufholen.

Kernenergie ist kein Allheilmittel. Aber sie ist ein wirkungsvoller, bewährter und wesentlicher Bestandteil der Klimalösung. Wenn wir wollen, dass die Kohlenstoffmärkte so funktionieren, wie sie sollen – wenn wir wollen, dass sie eine echte Dekarbonisierung vorantreiben –, müssen wir sicherstellen, dass sie alle Formen kohlenstoffarmer Energie anerkennen. Dazu gehört auch die Kernenergie.

Kohlenstoffmärkte ohne Atomkraft sind unvollständig. Und unvollständige Märkte werden uns nicht zu Netto-Null und darüber hinaus führen.

utilitydive

utilitydive

Ähnliche Nachrichten

Alle News
Animated ArrowAnimated ArrowAnimated Arrow